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Der Wunsch, die eigene Geschichte festzuhalten.
Auto-Biografien von Lebensborn-Kindern
 

Die jüngste Veröffentlichung stammt von Helga Schmid – ein schmales Bändchen von knapp 100 Seiten, im Selbstverlag erschienen. Im Grunde ist diese Lebensborn-Geschichte ein „Klassiker“:
Der Vater ist verheiratet und hat bereits 2 Söhne. Die Mutter, 15 Jahre jünger als er, ist seine Sekretärin. Es entwickelt sich eine Liebesgeschichte, ein Kind entsteht. Das Mädchen wird im österreichischen Lebensborn-Heim „Wienerwald“ geboren. Der Erzeuger, der sich nicht zwischen Ehefrau und Geliebter entscheiden kann, zieht in den Krieg (hier findet seine Vorstellung von Schuld und Sühne ihren Platz) und kommt darin um. Das Mädchen wächst mit Geheimnissen und Lügen auf … und entschlüsselt sie im letzten Lebensdrittel Stück für Stück.

Vor Helga Schmid haben schon eine ganze Reihe anderer Lebensborn-Kinder ihre Geschichte aufgeschrieben – allein oder mit professioneller Unterstützung. Was treibt sie an? Warum setzen sie sich diesem Erinnerungsprozess aus? Nehmen die Anstrengung auf sich, zusammenzutragen, was sie wissen, was sie zu wissen glaubten, was sie nicht wussten, was sie herausgefunden haben? Und für wen schreiben sie?

Sicher erst einmal für sich selbst. Das Schreiben ist ein Akt der Selbst-Vergewisserung, der Selbstreflexion, der Festigung einer Identität, die oft jahrelang von Leerstellen und Lügen geprägt war. Manchmal schreiben sie auch, um zu verstehen, was die Mutter, was der Vater gedacht hat, warum sie so und nicht anders gehandelt haben.
Sicher schreiben sie auch für ihre Familie - was viele Menschen ohne Lebensborn-Biografie ebenfalls tun. Dabei richtet sich Helga Schmid – um bei ihrem Beispiel zu bleiben – nicht nur an Kinder und Kindeskinder. Sie denkt auch an ihre Halbbrüder, die sie durch ihre Recherchen gefunden hat.

Manchen Lebensborn-Kindern reicht diese „private Öffentlichkeit“ – aber viele wollen ein größeres Publikum. Ein Publikum, das wenig über Lebensborn und Lebensborn-Kinder weiß, das immer noch die fatalen, falschen Bilder im Kopf hat („Zuchtanstalt“). Ein Publikum also, das „aufgeklärt“ werden soll – nicht nur über die SS-Organisation Lebensborn, sondern auch darüber, was es bedeutet/bedeuten kann, dort auf die Welt gekommen zu sein. Sie wollen erzählen von der aufwändigen und andauernden Suche nach der Wahrheit, von den Widerständen und Ängsten, den alten Verletzungen und dem Schmerz der neuen Erkenntnisse.

„Es ist für die Geschichte“, sagt Barbara Paciorkiewicz immer, wenn sie als Zeitzeugin erzählt, wie es ihr ergangen ist, als polnischem, nach Deutschland verschlepptem Raubkind. Auch sie hat jetzt – mittlerweile ist sie 87 – ihre Geschichte aufgeschrieben,  „für die Geschichte“. Das Manuskript ist fertig und soll bald veröffentlicht werden, in Polen – und hoffentlich auch in Deutschland.


Eine Übersicht – ohne Garantie auf Vollständigkeit

Autobiografische Bücher:
2002: Gisela Heidenreich: „Das endlose Jahr. Die langsame Entdeckung der eigenen Biographie – ein Lebensborn-Schicksal“
2008: Edda Tunn: „Kuckucksei. Geschichten eines Jahrhunderts“
2013: Helga Kahrau: „Hitlers Töchter. Meine SS-Lebensborn-Geschichte“
2015: Astrid Eggers und Elke Sauer im Auftrag von „Lebensspuren“: „Verschwiegene Opfer der SS. Lebensborn-Kinder erzählen ihr Leben“ (ein Sammelband).
2023: Gudrun Eussner: „Heime für Himmlers Väter. Ein Lebensbornkind fordert Auskunft“
2023: Dirk Kaesler: „Lügen und Scham. Deutsche Leben“
2024: Helga Schmid: „Geboren im Heim Wienerwald. Ein Lebensbornkind erzählt“

Auto-Biografien mit Schreibprofi Unterstützung:
1988/1992: Turid Ormseth/Veslemøy Kjendsli: „Kinder der Schande. Ein „Lebensborn-Mädchen“ auf der Suche nach ihrer Vergangenheit“
2007: Heilwig Weger/Dorothee Schmitz-Köster: „Kind L 364. Eine Lebensborn-Familiengeschichte“
2008: Hannes Dollinger/Annegret Lamey: „Kind unbekannter Herkunft. Die Geschichte des Lebensbornkindes Hannes Dollinger“
2015: Kari Rosvall/Naomi Lineham: „Nowhere´s child. The inspiring story of how one woman survided Hitler´s breeding camps (?) and found an Irish home“
2018: Klaus B./Dorothee Schmitz-Köster: „Raubkind. Von der SS nach Deutschland verschleppt“
2019: Alodia Witaszek/Reiner Engelmann: „Alodia, du bist jetzt Alice. Kinderraub und Zwangsadoption im Nationalsozialismus“
2020: Ingrid von Oelhafen/Tim Tate: Hitlers vergessene Kinder. Auf der Suche nach meiner Lebensborn-Vergangenheit“

Unveröffentlichte Biografien von
Gottfried B., Grete M., Ulrike M., Klaus K., Patrick L. … und sicher noch einigen mehr!

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