Von ganz nah: Der Kinderstuhl aus dem Lebensborn-Heim "Hochland" in Steinhöring ©dsk

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Ein Kinderstuhl: Symbol einer bewegten Biografie
 

Mir ist der kleine Stuhl in einem Zeitungsartikel begegnet, vor 20 Jahren. Pünktlich zum Kriegsende brachte die Süddeutsche eine Zeitzeugen-Serie. In einer Folge erzählte ein Mann, der im Lebensborn-Heim „Wienerwald“ auf die Welt gekommen war. Er hatte ein schwieriges Leben hinter sich – und eine glückliche Wendung erlebt. Dafür stand ein kleiner weißer Kinderstuhl, den er auf dem Zeitungsfoto präsentierte.

Der Stuhl war ein Geschenk. Eher zufällig war Horst Beisl in den 1980er Jahren in das ehemalige Lebensborn-Heim „Hochland“ in Steinhöring geraten. Eine Ordensschwester hatte ihn herumgeführt -  und er hatte ihr dabei seine Geschichte erzählt. Zum Abschied schenkte sie ihm den kleinen Stuhl. Bei ihm sei er „in guten Händen“, meinte sie. Es werde bestimmt nicht mehr lange dauern, bis die letzten Gegenstände aus „früheren Zeiten“ weggeräumt würden.

Mir ging sofort durch den Kopf: Der Kinderstuhl wäre ein tolles Objekt für die Lebensborn-Ausstellung, die ich gerade zusammenstellte! Obwohl oder gerade weil er deutliche Gebrauchsspuren zeigte. Der Lack blätterte ab, ein Hinterbein stand schief – vermutlich vom Herumkippeln. Würde Horst Beisl, der Besitzer, den wertvollen Gegenstand wohl ausleihen?

Ich ging auf die Suche nach Horst Beisl. Nach einigem Hin und Her konnte ich ihn in Thailand ausfindig machen. Nach dem Tsunami hatte er dort eine Zeit lang mit traumatisierten Kindern gearbeitet. Und sich dann niedergelassen, im „Urwald“, wie er mir in einem üppig frankierten Luftpostbrief schrieb. Der Stuhl war in München geblieben, in einem Keller, zusammen mit dem restlichen Hausrat. Ich könne ihn gerne dort abholen, schrieb er mir, er werde den Mann mit dem Kellerschlüssel informieren.

Es klappte. Nach längerem Suchen im dunklen Keller fand ich das begehrte Objekt. Ein bisschen verstaubt, aber soweit intakt. Und dann gings nach Bernburg, wo in der Gedenkstätte für Opfer der NS-„Euthanasie“ eine Lebensborn-Ausstellung in Arbeit war. Nur: Wie sollte der Stuhl präsentiert werden? Wenn sich jemand draufsetzte, würde das dem rechten Hinterbein – abgeknickt, notdürftig repariert – den Rest geben. Also wurde der Stuhl aufgehängt – ich fand, eine Lösung mit Symbolkraft. Wie viele Lebensborn-Kinder haben lange „in der Luft gehangen“, ohne Wissen über ihre tatsächliche Geschichte?

Nach der Ausstellung landete der Stuhl in meinem Arbeitszimmer, und Horst Beisl war froh, dass er bei mir „in guten Händen“ war. Eine Dauerlösung konnte das allerdings nicht sein: Der Stuhl sollte gezeigt werden, in Ausstellungen, im Museum!
Ein Anfang ist mittlerweile gemacht. 2023 war er im Stuttgarter Literaturhaus zu sehen, in einer Ausstellung zum Roman von Ulrike Draesner – darin wird unter anderem eine Lebensborn-Geschichte erzählt (vgl. Blog Nr. 5). Letztes Jahr ging die Ausstellung nach Berlin, ins Literarische Colloquium am Wannsee. Hier wie dort hing der Stuhl „in der Luft“. Über weitere Stationen – zum Beispiel Łódź – wird noch diskutiert.
Nur: Wo soll er letzten Endes landen? Hat jemand eine gute Idee?

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