Gabriele mit knapp zwei Jahren
Das erste Kinderfoto des Mädchens stammt aus seiner Patientinnenakte (Ausschnitt)

Beim Klick aufs Bild geht´s zu weiteren Fotos und Dokumenten



Das Kind, das keiner haben wollte: Gabriele Knie (1938-2025)
 

Die Geschichte von Lebensborn-Kind L 435 - Gabriele Knie - hat einen extremen Verlauf genommen. Deshalb will ich sie hier erzählen. Als ´Elitekind´ geboren, wurde sie aussortiert, weggeschafft. Sie geriet in Lebensgefahr, überlebte auf wundersame Weise und wurde steinalt. Aber von Anfang an.

Ende Januar 1938 wird Gabriele im Lebensborn-Heim „Harz“ (Wernigerode) geboren. Wenig später bringt man sie nach Steinhöring, ins bayerische Heim „Hochland“. Ihre – unverheiratete - Mutter tritt eine Stelle in der Münchner Lebensborn-Zentrale an. Dort arbeitet auch ihr späterer Ehemann, den sie schon aus Berlin kennt. Im November 1938 heiraten die beiden. Gabriele bleibt weiter in Heim „Hochland“.
Im Oktober 1939 schickt die Heim-Ärztin das Mädchen zur Beobachtung nach München, ins „Haunersche Kinderspital“. „Das Kind macht sowohl körperlich als auch geistig einen durchaus zurückgebliebenen Eindruck,“[1] schreibt sie in der Überweisung. Die Anderthalbjährige könne bisher nur sitzen und stehen, liege viel, werfe den Kopf hin und her ... Drei Tage wird Gabriele beobachtet und untersucht, dann schreibt die Klinik unter anderem: „Solche Bewegungen trifft man einerseits bei Kindern mit angeborenem Schwachsinn und bei solchen mit gestörter Sehfunktion; dann aber auch bei Kindern, die durch längere Zeit in Massenpflege aufgezogen werden.“ Und: „Einen schwer schwachsinnigen Eindruck macht das Kind jedenfalls nicht, wenn man mit ihm einigermaßen vertraut geworden ist …“[2]
Eins ist bei allem Einerseits-Andererseits klar: Gabriele fehlt die emotionale Zuwendung, der soziale Kontakt. Sie ist schließlich nicht die einzige, die im Lebensborn-Heim in diesem Punkt unterversorgt ist.
Dem leitenden Lebensborn-Arzt Gregor Ebner passt die Diagnose nicht: Er glaubt an eine „geistige Störung“ – und will das Mädchen loswerden. Ein ´solches´ Kind gehört nicht in ein Lebensborn-Heim! Deshalb stellt er die Familie vor die Alternative: Entweder sie nimmt das Mädchen auf – oder Gabriele kommt in eine „Anstalt, die sich mit der Pflege solcher Kinder besonders befasst“.[3]
Bei der Familie stößt er auf Granit. Die Mutter will die kleine Tochter nur aufnehmen, wenn „von einer geistigen Zurückgebliebenheit nicht mehr gesprochen werden kann.“[4] Der Ehemann will lieber ein zweites gesundes Kind (mittlerweile hat das Ehepaar einen Sohn) als ein „schwachsinniges“, das nicht einmal von ihm stammt.[5] Der Erzeuger – er hat die Vaterschaft namentlich anerkannt und zahlt Alimente – verlangt eine Blutgruppenuntersuchung. Er habe schon immer den Verdacht gehabt, das Kind sei ihm untergeschoben worden. Seine Eltern würden das Kind „unter Umständen“ nehmen,[6] aber wenn es nicht von ihrem Sohn stammt …
Fazit: Niemand will Gabriele haben. Also wird sie im März 1940 in die „Heil- und Pflegeanstalt“ Egelfing-Haar eingewiesen. Eine Anstalt, in der Patienten ermordet werden.

Bis zu diesem Punkt konnte ich Gabrieles Weg rekonstruieren, mithilfe von Dokumenten aus den Arolsen Archives. Nur: Was war mit dem Mädchen weiter geschehen? War es durch Luminal, Nahrungsentzug und Vernachlässigung getötet worden? Gehörte es zu den 312 Kindern, die in Eglfing-Haar auf diese Weise ums Leben kamen?[7]
Vielleicht existierte eine Patientinnen-Akte, aus der sich Gabrieles weiteres Schicksal ablesen ließ? Es gab eine Akte – aber ich bekam sie nicht, sie war gesperrt. Wenn ich allerdings nachweisen könne, dass Gabriele nicht mehr lebt … Das Standesamt Wernigerode, heute zuständig für Heim „Harz“, teilte mir mit: Im Geburtenbuch gibt es keinen Eintrag in der Rubrik „Tod des Kindes“. Die Dokumentation sei allerdings nicht zuverlässig, erklärte die Standesbeamtin, wegen Ost-West ...
Vielleicht konnte der Halbbruder weiterhelfen, der in den Akten erwähnt wird. Im Internet entdeckte ich einen Hinweis, nach ein paar Mails hatte ich ihn gefunden. Und – er war offen für meine Fragen. Erst 1994, kurz vor dem Tod seiner Mutter, hatte er von der Existenz seiner Schwester erfahren. Seitdem besuche er sie regelmäßig, im Heim.
Gabriele hat also die Todesanstalt Eglfing-Haar überlebt! Nur: Wie war das möglich? Der Bruder wusste es nicht. Vielleicht hatte sein Vater sie geschützt, immerhin war er SS-Obersturmbannführer und Lebensborn-Mitarbeiter gewesen …
Für mich war jetzt erst einmal wichtig, Gabriele kennenzulernen. Auch wenn ihr Bruder meine Erwartungen dämpfte: Sie spreche kaum noch. Früher habe sie viel erzählt, und ein beeindruckendes Zahlengedächtnis gehabt … Gemeinsam holten wir sie im Heim ab, gingen in ein Café, saßen in der Herbstsonne. Sie freute sich, der Apérol Spritz schmeckte ihr. Ich fragte sie nach Erinnerungen, zum Beispiel an die Schule, die sie ein paar Jahre besucht hatte. Zuerst hatte sie wohl keine rechte Lust. Aber dann fing sie an, von den Menschen zu erzählen, die sie mochten oder gemocht hatten – und von den anderen, die nicht nett zu ihr gewesen waren.
Ob sie mir ein Autogramm geben könne? Sorgfältig schrieb sie ihren Namen in mein Heftchen, notierte auch noch den ihres Bruders und seiner Frau … Es war ein schöner Nachmittag.
Natürlich ließ mir die Patientinnenakte keine Ruhe. Und wieder war Gabrieles Bruder der Türöffner: Er bekam eine Kopie und ich eine Kopie der Kopie. Leider gibt sie keine Antwort auf die Frage, wie Gabriele fünf lange Jahre in Eglfing-Haar überleben konnte. Sie sei kein „RA-Kind“ gewesen, hatte der Archivar dem Bruder erklärt, kein „Reichsausschuss-Kind“. Immerhin: Dem „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“, der die Todesurteile über die kleinen Patientinnen und Patienten verfügte, war Gabriele entgangen.
Hatte sie vielleicht überlebt, weil sie sich entwickelte und lernte, weil sie ein „umgängliches“ und freundliches Kind war? Das steht auch in ihrer Patientinnen-Akte.
Vor ein paar Tagen schrieb mir der Bruder, dass seine Schwester gestorben ist. Sie ist 87 Jahre alt geworden – und hat es den selbsternannten „Rassenspezialisten“ gezeigt!

[1] Arolsen Archives 4.1.0 / 82460690

[2] Arolsen Archives 4.1.0 / 82460691

[3] Arolsen Archives 4.1.0 / 82460693

[4] Arolsen Archives 4.1.0 / 82460711

[5] Arolsen Archives 4.1.0 / 82460715

[6] Arolsen Archives 4.1.0 / 82460708

[7] Julia Katzur: Münchner Kinder und Jugendliche als Opfer der „Kindereuthanasie“ in der „Kinderfachabteilung“ der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. Seite 76. In: Gedenkbuch für die Münchner Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde. Göttingen 2018, S. 73-81

zurück zur Übersicht