Kinderheim der Israelitischen Jugendhilfe, Antonienstraße 7, um 1930. Seit 1942 eine "Mütterwohnstätte" des Lebensborn.
©Stadtarchiv München

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München, Antonienstraße 7
Eine "Mütterwohnstätte" des Lebensborn
 

Vor ein paar Wochen druckte die „Zeit“[1] einen langen Artikel über eine Münchner Schulklasse, dazu ein Klassenfoto aus dem Jahr 1937. Es zeigt
48 jüdische Kinder und ihren Lehrer, auf der Rückseite sind ihre Namen festgehalten.
Das Foto hat die Münchner Historikerin Kristina Milz in einem Nachlass gefunden und sich - zusammen mit Studierenden - auf die Suche nach den Kindern gemacht. Und tatsächlich konnten alle ausfindig gemacht, alle Lebenswege mehr oder weniger detailliert nachvollzogen werden! Die meisten Mädchen und Jungen hatten rechtzeitig mit oder ohne Familie emigrieren können, nach England, Palästina, Australien, Südamerika, in die USA oder die Türkei. Aber elf Kinder haben nicht überlebt.

Warum ich das erzähle? Weil in einem der Kinderschicksale, die der Artikel genauer anschaut, die Verbindung zwischen Holocaust und Lebensborn augenfällig wird.

Berta Sandberg, Jahrgang 1928, war zehn, als die Emigrationspläne ihrer Familie scheiterten. Der Vater wurde in Dachau eingesperrt und ermordet, die Mutter nahm Gift, als sie mit den beiden Kindern nach Riga deportiert werden sollte.
Die Kinder, ebenfalls vergiftet, überlebten, kamen zuerst ins jüdische Kinderheim in der Münchner Antonienstraße 7 und von dort zu einer Familie in Nürnberg. Wenig später wurden Berta und ihr Bruder nach Polen deportiert und in Izbica, einem „Durchgangsgetto“, ermordet.

Antonienstr. 7 – das war die Adresse einer Lebensborn-„Mütterwohnstätte“!

In „Kinder für den Führer. Der Lebensborn in München“[2] finde ich einen längeren Abschnitt über die Antonienstraße 7. Das Haus wurde 1923 gebaut, 1926 von der Israelitischen Jugendhilfe übernommen und zum Kinderheim hergerichtet. Im Keller befanden sich Küche und Wirtschaftsräume, im Parterre Ess- und Aufenthaltsräume, ein Lernzimmer, der Kindergarten, im ersten und zweiten Stock Schlafzimmer und Waschräume für die Kinder und ihre Betreuerinnen. Anfangs lebten hier Waisen, unehelich geborene Kinder und Mädchen und Jungen aus sozial schwachen Familien. Seit 1933 kamen immer mehr Kinder, die auf die Emigration warteten oder in die Stadt geschickt worden waren, weil hier die Diskriminierung weniger hart war als auf dem Land.

Die Webseite „Stadtgeschichte München – Gedenkorte“[3] erzählt von BewohnerInnen des Antonienheims. Zum Beispiel von Merry Gaber, Jahrgang 1930. Zehn Jahre lebte sie dort, von 1932 bis 1942. Ihre Mutter war 1934 in die USA gegangen. Im März 1939 bekam das Mädchen einen Fremdenpass, das Vormundschaftsgericht stimmte ihrer Emigration zu … Dann war Schluss: Zusammen mit den letzten 13 Heimkindern und ihren Betreuerinnen wurde Merry Gaber 1943 deportiert, nach Auschwitz. Ein paar Stunden nach der Ankunft war sie tot, ermordet.

In der Zwischenzeit hatte der Lebensborn das Haus übernommen:
Im März 1942 erklärte das Reichssicherheitshauptamt, es gebe keine Bedenken gegen eine Räumung des jüdischen Kinderheims und den Verkauf an den Lebensborn. Im selben Monat wurde ein Kaufvertrag geschlossen, Mitte April folgte die Räumung des Kinderheims. 87100 RM sollte der Lebensborn zahlen – er zahlte nie. Im Juli hielten sich vorübergehend Lebensborn-Mitarbeiter im Haus auf, dann wurde eine Lebensborn-„Mütterwohnstätte“ eröffnet.

Nun zogen Frauen ein, die 1. in einem Lebensborn-Heim entbunden hatten, die 2. beim Lebensborn arbeiteten und deren Kind 3. bereits älter als ein Jahr war. In der „Mütterwohnstätte“ bekamen sie – zusammen mit dem Kind – ein Zimmer, und weil die Mädchen und Jungen im heimeigenen Kindergarten betreut wurden, konnten die Frauen tagsüber ihrer Arbeit nachgehen. Für den Lebensborn hatte dieses Modell einen doppelten Nutzen: Die Kinder konnten die überfüllten Heime verlassen – die Frauen kannten sich mit der Lebensborn-Praxis aus und waren in der Regel selbst an Geheimhaltung interessiert. Loyale Angestellte!

Wie viele Frauen und Kinder in der Antonienstraße 7 seit Sommer 1942 gelebt haben, ist nicht klar - maximal dürften es 20 gewesen sein. Klar ist nur, wie lange sie dort gelebt haben. Nach den massiven Bombenangriffen auf München wurden die Kinder aus den „Mütterwohnstätten“ (es gab eine weitere in der Kaulbachstraße 65) im August 1943 ins luxemburgische Lebensborn-Heim verlegt. Auch sie gingen also „auf Transport“ – nicht in den Tod, sondern zum Schutz ihres Lebens.

 

[1] Die Zeit Nr. 22, 16.5.2024, Seite 14 und 15

[2] Kinder für den Führer. Der Lebensborn in München. Herausgegeben von Angelika Baumann und Andreas Heusler. München 2013, S. 82-86. Und: Die Einrichtungen der Israelitischen Kultusgemeinde

München während der NS-Zeit. https://stadt.muenchen.de/dam/jcr:fb6423e6-04a2-446c-be8c-7f8ba4fec5ee/Einrichtungen%20der%20Israelitischen%20Kultusgemeinde.pdf

[3] https://stadtgeschichte-muenchen.de/denkmal/gedenkorte/d_gedenkorte_strasse.php?strasse=Antonienstr.

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