Dsa Mahnmal für 123 "frühverstorbene" Kinder von ZwangsarbeiterInnen ©dsk

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"Ausländerkinder-Pflegestätten": Orte des Todes
 

Ich war unterwegs, im Berliner Umland. Mitten im Wald stand ich auf einmal vor einem Mahnmal. Drei Granitsäulen, auf der mittleren 62 weiße Marmortäfelchen
mit 62 Namen. In krakeliger Kinderhandschrift stand da „Halina“ und „Anatoli“, „Wiktor“, „Tatjana“, „Genija“ …

Das Mahnmal solle an 123 „frühverstorbene Kinder von Zwangsarbeiter_innen in Berlin-Buch“ erinnern, hieß es auf einer Tafel.  Zu Tode gekommen wegen „Mangelversorgung und Infektionskrankheiten“ in Lagern und Krankenhäusern.
Auch die ungelenke Handschrift wurde erklärt. GrundschülerInnen aus der Umgebung hatten sich mit dem Thema beschäftigt und den Erinnerungsort auf ihre Weise mitgestaltet. Im Netz fand ich später Fotos der Einweihungsfeier.

Seit der Begegnung mit diesem Ort beschäftigen mich die toten Kinder. Kinder von Frauen und Männern, die seit 1940 zur Arbeit ins Deutsche Reich gezwungen wurden. Sie stammten aus Polen und der Sowjetunion, aus Frankreich und den Niederlanden, aus Kroatien, Ungarn … Der NS-Staat brauchte Arbeitskräfte, vor allem in der Rüstungsindustrie und in der Landwirtschaft. Viele Arbeitskräfte,
billige Arbeitskräfte. Und die ´nahm´ er sich aus den eroberten, besetzten Ländern. Dabei praktizierte er eine strikte Rangordnung: Ganz unten Frauen und Männer aus der SU, etwas höher Polinnen und Polen, dann West- und SüdeuropäerInnen. Je weiter oben, desto ´besser´ die Lebensbedingungen und der ´Lohn´.
Aber elend ging es allen: Weggerissen aus ihrem Zuhause, zu schwerer Arbeit gezwungen, in Lagern untergebracht, schlecht ernährt, mit minimalem Bewegungsradius … Insgesamt wurden 8,4 Millionen „Fremdarbeiter“ nach Deutschland gezwungen, Männer, Frauen und manchmal sogar Kinder.
Die meisten waren jung, „Ostarbeiterinnen“ im Schnitt 21 Jahre, „Ostarbeiter“ 24 – im Jahr 1944.

So absurd und gleichzeitig nachvollziehbar: Nähe, Sex und Liebe entwickeln sich
auch unter brutalen Lebensbedingungen. Sie werden gebraucht gegen das Elend,
die Einsamkeit, die Hoffnungslosigkeit. Und es werden auch Kinder gezeugt – bewusst, zufällig, manchmal in einem Akt der Gewalt. Nur: Schwangere Frauen,
so die Logik der Profiteure, arbeiten schlechter, erst recht, wenn das Baby da ist.
Bis Ende 1942 wurden sie deshalb zurücktransportiert in ihr Herkunftsland.
Damit gingen allerdings Arbeitskräfte verloren. Also musste eine andere ´Strategie´ her: Die Kinder sollten erst gar nicht geboren werden. Abtreibung stand im Deutschen Reich unter Strafe. Für Polinnen, Russinnen, Ukrainerinnen wurde eine Ausnahmeregelung beschlossen - sie wurden zum Schwangerschaftsabbruch gezwungen. Historiker schätzen, dass 40 000 bis 60 000 Abtreibungen bei „Fremdarbeiterinnen“ vorgenommen wurden.
Manche Frauen konnten sich entziehen. Und Schwangere mit einem deutschen Erzeuger oder einem Mann „germanischer Abstammung“ durften das Kind zur Welt bringen. „Wertvolles Blut“, so die Rassenlogik der Nationalsozialisten, sollte nicht verloren gehen. Behalten durften die Frauen ihre Kinder allerdings nicht, sie wurden ihnen abgenommen mit dem Ziel, sie zu „germanisieren“.

Doch auch diese ´Strategie´ hatte nicht die gewünschte Wirkung. Trotz allem kamen mindestens 100 000 Kinder („ausländische Geburten“) zur Welt, die tatsächliche Zahl liegt wohl deutlich darüber. Viele Babys wurden in ZwangsarbeiterInnen-Lagern geboren, einige Frauen entbanden im Krankenhaus (getrennt von den deutschen Patientinnen) oder auf dem Bauernhof, auf dem sie arbeiten mussten. Zehn, zwölf Tage durften Mutter und Kind zusammenbleiben, dann mussten die Frauen ihr Baby abgeben und auf ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Die Kinder landeten in einer „Ausländerkinder-Pflegestätte“ –
in „Einrichtungen einfachster Art“, so der offizielle Sprachgebrauch.

Manchmal war es nur eine Wellblechhütte oder eine leerstehende Scheune. Manchmal gab es kein Wasser, keinen Strom, keine ausreichende Heizung. Häufig hatten die Frauen, die dort arbeiten mussten (meist ebenfalls Zwangsarbeiterinnen), keine Erfahrung mit Säuglingspflege. Immer gab es zu wenig Nahrung – die falsche oft noch dazu. Immer fehlten Windeln und Jäckchen, Badewannen, Betten, Strohsäcke … Immer war die medizinische Versorgung mangelhaft. Und immer fehlte die Zuwendung! Mütter/Eltern durften ihre Kinder höchstens alle 14 Tage besuchen, für wenige Stunden.
Viele Kinder, vor allem die Kleinsten, starben schon nach wenigen Tagen. Geschätzt kamen 30 000 bis 50 000 Kinder zu Tode, die Mortalitätsrate in den „Ausländerkinder-Pflegestätten“ lag bei 50 bis 90 Prozent.
Manchmal schaffte es eine Frau, ihr Kind heimlich aus dem Heim zu holen, manchmal ließen es „Arbeitgeber“ auf dem Land zu, dass das Kind auf dem Hof bleiben durfte … Aber das waren Ausnahmen.

Himmlers ´Rassespezialisten´ konnten sich übrigens vorstellen, „gutrassige“ Kinder von Polinnen, „Ostarbeiterinnen“ oder Frauen im „freiwilligen Arbeitseinsatz“ dem Lebensborn zu übergeben. Als ersten Schritt zu ihrer „Germanisierung“. Ob dies tatsächlich geschehen ist, weiß ich allerdings nicht.

 

Viele Informationen habe ich in dem neuen Buch von Marcel Brüntrup gefunden: „Zwischen Arbeitseinsatz und Rassenpolitik. Die Kinder osteuropäischer ZwangsarbeiterInnen und die Praxis der Zwangsabtreibungen im Nationalsozialismus“. Auf Fotos und Dokumente stieß ich im Katalog des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit Berlin-Schöneweide „Alltag Zwangsarbeit“.

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